<%@LANGUAGE="JAVASCRIPT" CODEPAGE="65001"%> kunst - konzepte archiv
HOME                                                             home   über   aktuell   archive   cv   veröffentlichungen

archiv

 

 

Osram Art Projects

 

Climate-Change-Minds

 

LIST icelandic art news

 

Reinventing Harbour Cities

 

Sequences art festival

 
 

Das Hybris-Projekt

 
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

HOME

 

 

Das Hybris-Projekt
Hochmut und sisyphale Vergeblichkeit

Halle 14. Zentrum für Zeitgenössische Kunst, Leipzig
1. Mai - 16. August 2015

Foto: Claus Bach, 2015

Künstler: Narda Alvarado (BO), Chim↑Pom (JP), Ursula Damm (DE), GÆG (DE), Lucy Glendinning (GB), Harminder Judge (GB), Bjørn Melhus (DE), Tobias Regensburger (DE), Xu Tan (CN), Pinar Yoldas (TR)

Kuratiert von Michael Arzt (HALLE 14), Frank Motz (ACC Galerie Weimar) und Christian Schoen (kunst|konzepte)

Individueller Erkenntnis- und Freiheitsdrang kollidierte schon seit jeher mit dem Sündenfall Hybris – unaufhaltsam fordert der Mensch sein Schicksal heraus, um die bestehenden Grenzen zu überflügeln und den Lauf der Zeit zu bestimmen. Doch droht nichts Geringeres als ein Kontrollverlust über seine eigene Schöpfung und die Heraufbeschwörung einer globalen Katastrophe, die nicht zuletzt auch auf den Nachkommenden lastet.

Die Gruppenausstellung befragt in ästhetisch-kritischen sowie künstlerisch-visionären Stellungnahmen menschliches Agieren im Kontext des jahrtausendealten, ideengeschichtlichen Stoffes: Die Überschreitung des richtigen Maßes – eine zügellose Handlung, die unter Verletzung des in himmlischen und irdischen Hierarchien geltenden Rechts schweren Unbill verursacht.

Narda Alvarado (BO)
The Spirit Of Things To Come, 2015
Installation
Notizbuch, Zeichnungen
Video, Loop
Foto: Claus Bach, 2015

Die Arbeit besteht aus einer Reihe von Notizen und Ideen, welche das ehrliche Ziel eines systematischen Umdenkens verfolgen, als ein Versuch, die problematische Generation, innerhalb eines höheren Ordnungssystems in unserer modernen Gesellschaft anzusprechen.

„The Spirit of Things to Come“ oder auch „Uqua Ajayu Jutantaniw“ (in Aymara) regt dazu an, auf eine spielerische Art die Hybris bei Seite zu legen, um von alten Philisophien und nicht-modernen oder indigenen Gemeinschaften zu lernen, indem man sich Spiritualität oder die kindliche Unschuld zu eigen macht. Dabei erkennt dieses Werk jedoch an, dass man die Vorstellung des „edlen Wilden“ nicht unbedingt in den gegenwärtigen indigenen Gemeinschaften findet. Dieses Idealbild von Weisheit gehört möglicherweise der Vergangenheit an. Somit ist es vielleicht an der Zeit, in die Zukunft überzugehen ohne dabei die Vergangenheit aus dem Blick zu verlieren.

„The Spirit of Things to Come“ ist inspiriert durch das Aymara-Konzept „K’epnair“ (k’ep=hinter, nair=Auge). Dies besagt, dass die Vergangenheit im Gegensatz zur Zukunft vor uns liegt, da sie sichtbar ist. Die Zukunft hingegen liegt hinter uns, weil wir sie nicht sehen.

Die Sammlung, die in einem handgefertigten Heft präsentiert wird, zeigt eine Reihe unterschiedlicher Elemente (Menschen, Orte, Veranstaltungen, Umgebungen, Technologien, Fakten), die, kombiniert, eine operative und spielerische Methodik darbieten.

Chim↑Pom (JP)
It’s The Wall World, 2015

Installation
13 Puzzleteile
Video, Loop
Foto: Claus Bach, 2015

Die japanische Künstlergruppe Chim↑Pom bricht Tabus: mit allen Mitteln, um jeden Preis. So ließen die Künstler in Kambodscha Landminen detonieren – mit in die Luft gingen einige Exemplare der in Japan äußerst beliebten Luis-Vuitton-Taschen. Um ihre spektakulären Unternehmungen durchzuführen, gehen die Mitglieder an die eigenen Grenzen: Toshinori Mizuno hat die Zeit im Undercover-Einsatz im Kraftwerk Fukushimas in steter Angst verbracht. Diese verging; was blieb, war der Schnappschuss, der ihn im Strahlungsschutzanzug vor Reaktor Nr. 3 zeigt – eine rote Karte wie ein Schiedsrichter in der erhobenen Hand. Derlei Aktionen gehen weit über stupide Effekthascherei hinaus, sondern sollen Japan, ein Land, das den Luxus nicht missen mag, vor Augen halten, welchen Preis dieses Verhalten andere Teile der Erde kostet. Der Kunstkritiker Noi Sawaragi sprach nicht umsonst von Chim↑Pom als richtungsgebende Neuheit in Japans zeitgenössischer Kunstszene.

In Leipzig hat das Kollektiv die Werkserie „It’s The Wall World“ fortgeführt. Bruchstücke aus verschiedenen Teilen der Welt und gesellschaftlichen Milieus werden zu einem Puzzleobjekt kombiniert: die weiße Galeriewand trägt Fragmente scheinbar trivialer Orte. Die am jeweiligen Ort hinterlassene Lücke wurde durch ein passendes Gegenstück wieder geschlossen.

Acht Puzzlestücke haben Chim↑Pom aus Japan mitgebracht. Die meisten stammen aus Tokio. Sie wurden aus einem Kinderbett, aus dem Zimmer eines „lokalen, japanischen Popsternchens“, aus einer Restaurant-Werbetafel, aus einer Obdachlosenbehausung, aus dem Büro eines Suppenherstellers und einem Club, in dem Frauen männliche Begleitung an die Seite gestellt wird, herausgeschnitten. Ein weiteres stammt aus einem Landhaus in den Bergen der Region Tokushima und ein anderes aus einem aussortierten Grabstein von Insel Awaji-shima. Diese werden durch fünf neue Puzzleteile aus Deutschland ergänzt: Drei wurden in Weimar aus einem ausrangierten Ausstellungsdisplay der Gedenkstätte Buchenwald, einem Privatauto japanischer Herkunft und der Rückwand eines beheizbaren Tresors aus der der ehemaligen Staatsbank der DDR herausgetrennt. Eins stammt aus der ehemaligen Stasizentrale in Berlin und das Fünfte aus einem Dresdner Schlachthof.

Diese Arbeit von Chim↑Pom spielt mit der Vergeblichkeit, sich ein zusammenpassendes Bild der Welt mit seinen antagonistischen Facetten machen zu können.

Ursula Damm
The Outline of Paradise, 2014

Installation & Video, 12 min, Loop
Sustainable Luminosity, 2012
Video, 4 min, Loop
Foto: Claus Bach, 2015

Ursula Damm fusioniert mit ihren Werken klassisch-handwerkliche Methoden und technische Rechenprozesse, die sie in einer abstrakten Zwischenwelt von Echtheit, Simulation, Realität und Virtualität zusammenführt. Sie wandelt dabei zwischen den Welten von Wissenschaft und Kunst. In der interaktiven Klang- und Videoinstallation „The Outline of Paradise“ verbinden sich beide zu einem hypothetischen Zukunftsmodell.

Die Installation offeriert das fiktive Produkt „Sustainable Luminosity“, „nachhaltiges Leuchten“. Energiefressende Leuchtreklame soll durch das Fluoreszieren glühwurmartiger Mücken ersetzt werden. Diese können trainiert werden, in Schriftzügen und Firmenlogos zu fliegen. Mit einem Echtzeit-Sound-Spatialisierungs-System trainiert Ursula Damm diese Mücken, in Form einfacher LED-Buchstaben zu schwärmen. Diese Flugeigenschaften bleiben – einmal erworben – erhalten und werden epigenetisch an die Nachkommen vererbt.

Was wie das Hirngespinst eines sich selbst überschätzenden Wissenschaftlers klingen mag, erscheint angesichts der biotechnologischen Fortschritte unserer Zeit jedoch weit weniger abwegig. So heldenhaft und innovativ jene Idee daherkommen mag, so sehr ist sie von großer Ambivalenz geprägt – immerhin wohnt ihr die Unverschämtheit inne, frei über das natürliche Biotop einer intraspezifischen Gemeinschaft verfügen zu wollen. Das Leuchten der Insekten, das in der Natur vorrangig der Partnerwerbung dient, wird kommerziellen Interessen unterworfen. Aus einem Insektenschwarm wird ein skulpturales Kunstobjekt – und ein Diener omnipräsenter Werbung.

„Sustainable Luminosity“ greift eine typische Problemlage auf, indem herkömmliche Technologie durch „natürliche“, da bioorganisch erzeugte und damit „nachhaltigere“ Technologien als Problemlösungs-potenzial der Synthetischen Biologie angepriesen werden. Dass hier statt Mücken anstatt von Bakterien, den üblichen Manipulationsorganismen der Gentechnik, eingesetzt werden, ist ein Kunstgriff, der dem Menschen Empathie mit der anderen, kleineren Spezies ermöglichen soll.

So faszinierend die Arbeit selbst ist, so erstaunlich ist vor allem der Zwiespalt, in dem sich ihr Betrachter beim Versuch, jene abzuschätzen und einzuordnen, wiederfinden mag: Wird hier die endgültige Behebung von Umweltbelastungen, die Abhilfe für überhöhte Stromkosten, eine wort-wörtlich zündende Idee zur Rettung des Klimas präsentiert? Handelt es sich um simple Scharlatanerie, die fixe Idee eines Hochstaplers? Oder fungiert es als Sinnbild für die grenzenlose Unterjochung der Natur?

GÆG (DE)
passage2011

Foto: Claus Bach, 2015

Im Mai 2011 startete das Künstlerduo GÆG (Global Aesthetic Genetics) eine mehrwöchige Expedition, für die es ein selbstgebautes Boot über den Hauptkamm der Zillertaler Alpen zogen. Neoromantisches Streben und sisyphoshafte Anstrengung charakterisierten die Aktion, deren scheinbares Ziel es war, rechtzeitig das bedeutendste Kunstevent der Welt, die Biennale von Venedig, zu erreichen.

Der Bau des Bootes, davon erzählt das kleine Modell, lehnt sich an ursprüngliche Entstehungsmythen an, denn seine Form wurde aus Erde gewonnen, dem Element, aus dem alle Organismen entstehen und wieder vergehen. Aufgehäuft diente sie als Negativform für die Fiberglaskonstruktion. Es ist eine handwerkliche Tätigkeit, deren Spuren wir am Objekt selbst genau studieren können. Das Boot ist nicht nur ein tatsächliches Boot, sondern gleichermaßen sein Symbol.

Das Schiff ist in unterschiedlichsten Kulturen eine Daseinsmetapher, die letztlich für das menschliche Leben steht. Ihre Bedeutung ergibt sich durch den transitorischen Charakter, da Waren oder Menschen von einem Ort zum anderen gebracht werden, die Reise einen Anfang und ein Ende hat und sich darüber im steten Fluss befindet, sicher gesteuert werden will und doch von unberechenbaren Einflüssen abhängig ist.

Am Beginn des Unterfangens „passage2011” stand das wirkmächtige Bild eines roten Bootes auf einem Gletscher, das gleichzeitig ein Sujet des an seine Grenzen gelangenden Menschen darstellt, der gegen die Naturgewalten und die Erschöpfung ankämpft. Es sind die alten Heldensagen und modernen Mythen, die sich mit der Idee der „passage2011” verknüpfen und die Aktion bereits überhöhten, bevor sie überhaupt begann.

Man fühlt sich an die letzten Jahrhunderte erinnert, als die großen Expeditionen die Menschen in die unentdeckten Regionen unserer Welt brachten (oder über diese hinaus) und aus ihren Protagonisten strahlende oder tragische Helden machten. Diese Unternehmungen sind als Abenteuergeschichten zum Sinnbild für die Vereinnahmung der Erde durch den Menschen geworden, ein Symbol für den Fortschritt und die Überwindung der Natur durch die menschliche Kultur. Odysseus, der sich an den Mast seines Schiffes binden lässt, um das Geheimnis des todbringenden Gesangs der Sirenen zu lüften, gilt als der Prototyp des wissensdurstigen Forschers, für den Fortschritt alles und Stillstand den Tod bedeutet. Der Geist des Odysseus lebt in den aufklärerischen Expeditionen Humboldts und seiner Nachfahren fort, und es ist kein Zufall, dass deren Reiseberichte, die dem Logbuch von Huber und Aichner als Vorlage dienten, wie Dramen anmuten.

Auch „passage2011“ folgt dem Aufbau eines klassischen Dramas, das sich in drei Akte unterteilt. Das Schema, der steigenden Handlung im ersten, dem Höhepunkt im zweiten und der fallenden Handlung mit dem Finale im dritten Akt, gleicht zudem – wenig verwunderlich – dem Höhenprofil des überwundenen Berges. Es ist ein Drama, bei dem sich der Blick auf die Helden und ihr faktisches und doch metaphorisches Tun richtet. Im Zentrum steht die Kunst, die sich einerseits im selbstgebauten Boot (im Sinn einer Skulptur) bzw. in der Aktion selbst manifestiert. Sie ist dabei aber lediglich Platzhalter für das Streben des Menschen nach eigener Überhöhung, die – früher oder später – nur in der Katastrophe oder der Erlösung enden kann.

Noch während der Expedition war das Ende offen: Würden Huber und Aichner am Berg scheitern, so dass sie ihr
Ziel nie erreichten? Oder würden sie in einer triumphalen Fahrt durch den Canal Grande rudern, um schließlich im Sonnenuntergang am Horizont zu entschwinden? Es stellt sich außerdem die Frage, welches Maß an konkreter Aktion die Metapher verträgt, so dass sie auch noch als Metapher wahrgenommen wird. Oder umgekehrt: Wieviel metaphorische Qualität verträgt die Aktion?

Powerwalk, 2013

2-Kanal-Videoinstallation, 17 min, Loop
Foto: Claus Bach, 2015

Das künstlerische Zusammenwirken von Thomas Huber und Wolfgang Aichner hatte seinen Ursprung in einer Extremsituation: Beim Versuch, Europas größten Gletscher, den isländischen Vatnajökull, zu überqueren, wurden sie 1988 von einem Eissturm überrascht und konnten nur knapp dem Tod entrinnen. 25 Jahre später machten sich die beiden Künstler für „Powerwalk“ auf, um sich an selber Stelle erneut mit der Natur zu messen.

Für „Powerwalk“ stiegen die beiden Münchner Künstler im Rahmen einer einwöchigen Expedition als menschliche Energiestationen auf eben jenen Gletscher. Bei ihrer Unternehmung im September 2013 trugen sie mobile Windräder mit sich, mit denen sie permanent Strom aus Windenergie erzeugten.

Die so generierte und in speziellen Akkus gespeicherte Energie markiert auch den künstlerischen Ertrag der Aktion. Diese saubere Energie diente schließlich dazu, zurück in Deutschland, die schmutzige Expeditionskleidung zu waschen.

Mit „Powerwalk“ erschaffen die Künstler ein absurdes Bild, das den aktuellen Wettlauf der Industrieländer um natürliche Ressourcen und Energien und eine auf Effizienz, Profit und Unterhaltung ausgerichtete Gesellschaft thematisiert.

Als Künstlergemeinschaft traten Huber und Aichner erst 2005 anlässlich des Gentechnik- und Patentpolitik-kritischen Projekts „tilia inflata©“ öffentlich in Erscheinung. Seitdem firmieren sie für ihre gemeinschaftlichen Projekte unter dem Namen GÆG, der für „Global Aesthetic Genetics“ steht. Als Referenz auf die bedeutsame Extremerfahrung in Island ist der Buchstabe „Æ“ ihres Labels GÆG zu verstehen, der dort Bestandteil des Alphabets ist.

Lucy Glendinning (GB)

Feather Child 3, 2011-12 /
Folding Girl, 2011
Foto: Claus Bach, 2015

Lucy Glenndinning versteht ihre Kunst als Werkzeug zur Untersuchung psychologischer und philosophischer Themen. Immer wieder macht sie mit bildhauerischer Kunstfertigkeit und ästhetischem Feinsinn den menschlichen Körper zum semiotischen Medium. Tatsächlich sind ihre Arbeiten, allen voran all jene, die sie nicht für den öffentlichen Raum gestaltet, verstörend-faszinierend, schauerlich-schöner Natur.

Beunruhigend ist die Arbeit aus der Serie „Skins“ (Häute), die eine entleerte menschliche Hülle zeigt. Das Motiv erinnert an die mythologische Figur des Marsyas, der sich anmaß, Apoll im musikalischen Wettkampf herauszufordern (und zu gewinnen) und zur Strafe gehäutet wurde, oder auch an Michelangelos berühmte Darstellung des Heiligen Bartholomäus in der Sixtinischen Kapelle. Die Präsenz der Hülle des Menschen fragt nach der Bedeutung des verlorengegangenen Inhalts.

Die Skulpturenfolge „Feather Child“ verkörpert einen hellseherisch-unverstellten Blick in eine Gesellschaft der Zukunft und gibt womöglich eine Antwort auf die Frage, ob wir in einer Welt der Genmanipulation noch in der Lage sein werden, Einspruch gegen die Verwandlung unserer Körper zu erheben. Werden Bedarf und Notwendigkeit oder Technologieglauben und Größenwahn die beherrschenden Mächte sein? Werden wir kollektiv oder individuell handeln? Unbehagen überkommt den Betrachter angesichts der ruhenden, fragilen Kinderkörper, die gänzlich mit Federn bedeckt sind – zu wenig lassen sich die Stimmung eines Kinderzimmers zur Nacht und die eines Versuchslabors miteinander vereinbaren..

Harminder Judge (UK)
This Is Not A Fucking Holiday, 2015

Installation
Audiostück, 39 min, Loop
3 Videos, 10 min & 10 min & 20 min, Loop
Foto: Claus Bach, 2015

Aus der Kombination von Spritiualität und Pop konstruiert Harminder Judge den zentralen Ausgangspunkt für seine visuellen Kunstprojekte und Performances.

Für diese Ausstellung konzipierte der
in Indien geborene und im britischen Birmingham lebende Künstler ein neues Projekt rund um den Verschwörungstheoretiker Lee Stower, dessen Vorstellung von der Welt und seiner Rolle darin. Die Arbeit zitiert aus Themenfeldern wie Science Fiction, heilige Geometrie, Dystopie, Mensch und Maschine und verfolgt den Prozess des gesellschaftlichen Ausstiegs eines Menschen aufgund bestimmter Glaubensvorstellungen.

Stower ist eigentlich Klangkünstler (circuit bender), der Maschinen und Instrumente entwirft, die er selbst spielt oder an seinem Körper trägt. Eine von Stowers letzten Erfindungen und Gegenstand eines zweiten Videos ist ein futuristischer „Jet-Pack“, der für ihn einen symbolischen Bezug herstellt zwischen dem Einsturz der Zwillingstürme in New York am 11. September 2001, den Illuminati und einer Neuen Weltordnung. Als Träger dieses Rucksacks wird er selbst – in seiner Vorstellung – zum Symbol des (ebenfalls kollabierten) dritten Turms, der wiederum für die Leiter des biblischen Jakob steht.

Das Setting von „This Is Not A Fucking Holiday“ stellt eine vom profanen Alltag entrückte Schutzhütte da, deren Inneneinrichtung an Stowers Wohnung in Birmingham angelehnt ist. Die klaustrophobische Enge wirkt einerseits bedrückend, schafft aber gleichzeitig einen intimen Zugang zu der Gedankenwelt des Protagonisten.

Während Judges eigene spirituelle Überzeugungen meist im Unklaren bleiben, reflektieren seine Arbeiten
die Polyphonie der Glaubenssysteme, die die Gesellschaft heute prägt. Wie können wir als Individuen die Informationsflut und deren Bedeutungsviel-
falt verarbeiten? Sie wird Teil unserer Persönlichkeit, wir projizieren unsere Meinung zurück in die Welt. Judges Arbeit ist eine Aufforderung zu persönlichem und gemeinschaftlichem Engagement, eine Aufforderung zu mehr Offenheit für die kulturellen und religiösen Unterschiede in einer eindimensional auf Profit ausgerichteten Welt.

Bjørn Melhus (DE)
Freedom & Independence, 2014

HD-Video, 15 min, Loop
Foto: Claus Bach, 2015

Zweifelsohne ist Bjørn Melhus einer der bedeutendsten Medienkünstler unserer Zeit. Aufgewachsen im Zeitalter der digitalen Revolution, hebt Melhus wie ein Archäologe Fundstücke aus der Medien und Kulturgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, um die Frage nach der menschlichen Identität im Kontext einer durch und durch mediatisierten Kultur zu stellen.

In seinem fiktionalen Kurzfilm „Freedom & Independence“ kombiniert Bjørn Melhus zum Albtraum verkommenes neoliberales Elitedenken mit medialen Versatzstücken religiöser Endzeitprophezeihungen. Das Ganze spielt vor der Kulisse einer von privaten Exzessen vereinnahmten, urbanen Architektur des Megalomanen (Istanbul).

In diesem Setting lässt er eine, an die Schriftstellerin und selbsternannte Objektivismus-Philosophin Ayn Rand angelehnte Fantasiefigur als Übermutter auftreten. Die Tonspur stammt aus Interviews der 1982 in New York verstorbenen russischen Autorin. Mit biblisch-apokalyptischem Habitus und paranormalen Kräften ausgestattet, dirigiert diese ihre Kinder, Mr. Freedom und Ms. Independence, auf einer Tour de Force durch abgründige Landschaften unserer globalen, im Wahn sinnenden und nach Heilsversprechen sehnenden Psyche. Grenzenlos ausgelebte Freiheit und Unabhängigkeit innerhalb einer radikal kapitalistischen Gesellschaft sind zudem die Ingredienzien unserer gegenwärtigen Hybris.

Melhus’ Film ist ein kruder Trip zwischen Selbstoptimierungszwang, Heilsversprechen, Kindheitstrauma und Arbeitsethik im Stilmix aus Komödie, Musical und Horror, mit stilistischen Anlehnungen an das evangelikale US-Mainstream-Kino.

Tobias Regensburger (DE)
CAMP 2015 [LEJ], 2004/2015

Assemblage, verschiedene Materialien
Foto: Claus Bach, 2015

Übriggebliebenes, ob Zivilisationsmüll oder Gesellschaftsschrott, ist sowohl materiell als auch thematisch die Grundlage des Kieler Bildhauers Tobias Regensburger, der sich von seiner einst klassisch orientierten Profession abwandte und zum Tüftler, zum stillen Augur geworden ist, der der Selbstzerstörungswut unserer Zeit mit Cleverness entgegentritt. Als akribischer Sammler findet er an unvermuteten Orten vergessene Materialien, die er zu Versatzstücken futuristisch anmutender Objekte macht. Die einzelnen Fragmente löst er von ihrer Funktion und überschreibt sie mit einer neuen Zweckidee.

Das „CAMP“ ist eine monumentale Materialcollage, deren zentrales Motiv aus einem Hubschrauber besteht. Es wurde erstmals 2004 im öffentlichen Raum präsentiert.

Die Installation spielt bereits im Titel sowohl auf den gewöhnlichen Freiheitsdrang des Individuums (Urlaub, Camping) an, als auch auf den (militärischen und alltäglichen) Kampf ums Überleben, das Verteidigen des eigenen Territoriums inklusive der notwendigen Fluchtstrategien impliziert. Der für die Arbeit gewählte Titel umschreibt den Begriff Mobilität. Mobilität bedeutet hier nicht nur Beweglichkeit im eigentlichen Sinne, sondern beschreibt z.B. den Traum von Freiheit und Unabhängigkeit bis hin zur Flucht: Flucht aus der Gesellschaft, Flucht vor dem Ich. Für den Fluchtgedanken steht synonym das Bild des Hubschraubers. In und an ihm ließe sich alles Nötige verstauen und an jeden erdenklichen Ort transportieren. Zuletzt ist es der alte Traum vom Fliegen, dessen Realisierung dem Menschen gedanklich unglaubliche Möglichkeiten eröffnen könnte.

Die in Leipzig präsentierte Arbeit konzentriert sich auf den Hubschrauber, dessen physischer Zustand einen ambivalenten Eindruck hinterlässt. Als nicht vollendeter und damit fluguntauglicher Hubschrauber hat er entweder nie den Boden verlassen, oder aber er ist nach einem Flug auf der Erde gestrandet.

In jedem Fall ist „CAMP“ eine Metapher für das menschliche Streben nach Höherem, zumindest nach dem Entfernten, dem anderen Leben und dabei Sinnbild menschlichen Scheiterns.

Xu Tan (CN)
Social Botany: ZHONG (Pflanzung/Samen/Spezie/Rasse), 2013-14

5-Kanal-Videoinstallation, Loop

Als sozial agierender Künstler untersucht Xu Tan, ehemaliges Mitglied der „Big Tail Elephant Group“, in seinen Werken kritisch die menschlichen Bedingungen in den Entwicklungsländern während des Prozesses ihrer Integration in die globale Wirtschaft. Xu Tan setzt sich mit dringenden Fragen auseinander, wie die nach der Situation von Arbeitsmigranten und deren Rolle im Gefüge hegemonialer, kapitalistischer Macht- und Ordnungsstrukturen. Oder aber er lotet mit seinem gesellschaftlichen Engagement die Machbarkeit von kritischer Kunst in China aus.

In seiner seit 2005 fortlaufenden, forschungsbasierten Werkserie „Keywords“ untersucht Xu Tan sozial und kulturell besetzte Bedeutungen von Worten, Dingen und Räumen und deren Auswirkungen auf menschliches Mit- und Gegeneinander. Als Teil dieser Arbeit beschäftigt er sich mit einer Gruppe von Mitstreitern, die sich unter dem Namen „Keywords Lab“ vereinen, im Rahmen des „The Social Botany Project“ damit, die Beziehungen zwischen Menschen und deren natürlichen und bebauten Lebenswelten zu untersuchen. Es ist nicht der Gegensatz von Mensch und ungezähmter Natur, der ihn interessiert, sondern was der sich verändernde Umgang mit Pflanzen über die wandelnde Gesellschaft und Kultur aussagt.

Für „Social Botany“ sammelte er mit seiner Gruppe eine Fülle von Material, sei es von Gärten auf Hausdächern in Hong Kong oder von den schwimmenden Gärten der Bootsbewohner aus seiner Heimatstadt Guangzhou, einer Stadt, die seit mehreren Jahrzehnten einem rasanten Wachstum unterworfen ist. Insgesamt wurden mehr als 80 Personen interviewt, die in den unterschiedlichsten Bereichen der Botanik arbeiten, von Bauern über Regierungsbeamte bis zu Akteuren aus Kunst und Kultur. Die Analyse konzentriert sich auf drei Kontexte: Agrikulturelle Pflanzung, urbane und ländliche Entwicklung sowie selbst initiierte Gartenbewegungen.

Im Rahmen des „Hybris-Projekts“ fokussiert sich die Arbeit auf den ersten Kontext mit den Schlagworten (keywords): „Dauer“, „animalische Freiheit“, „Saat“, „Blutlinie“, „Eudämonie (Glückseligkeit)“ und „Sorge um die Fruchtbarkeit“. Xu Tan hat hierfür Leseräume geschaffen, wobei die mitgebrachten Videos, Texte und andere Materialen mit Ergebnissen seiner vor Ort gemachten Untersuchungen ergänzt werden.

Die Zusammenstellung der Videointerviews und Dokumentationen, die er als „Komposition“ bezeichnet, wird ergänzt durch zwei Videos, in denen er sich selbst in direkter Ansprache an den Betrachter wendet (er selbst spricht hier von „visible speech writings“).

Pinar Yoldas (TR)
Regnum Alba, 2014

Druck auf Hadernpapier
Foto: Claus Bach, 2015

Das Œuvre von Pinar Yoldas ist von der Verbindung ihres wissenschaftlichen Fachwissens mit ihrer künstlerischen Praxis gekennzeichnet. Yoldas hinterfragt unseren scheinbar unlöschbaren Durst nach Wissen und Fortschritt – ihr Entwurf eines post-humanen Ökosystems, dessen Bewohner durch evolutionären Selektionsdruck längst fähig sind, Plastikmoleküle zu ihrem Vorteil in ihre Körper einzubauen, unterstützt Yoldas These, dass die heutige Fauna schon bald eine völlig veränderte sein wird.

Die Arbeit „Regnum Alba“ - „Das Weiße Königreich“ - bezieht sich auf eine bestimmte Tiergruppe in Carl von Linnés berühmter Publikation „System Naturae“, die Tiere ohne Pigmentierung umfasst. Auf dem Bild versammeln sich collageartig über fünfzig verschiedene Vertreter bestimmter Tierrassen, die aufgrund von Mutationen unter dem Gendefekt Leuzismus leiden und keine Farben oder Pigmente ausbilden können. Diese Tiere weisen meist weißes Fell und helle Haut auf, da die Haut im Unterschied zum Albinismus keine Melanozyten enthält. In der Forschung gibt es dazu etliche wissenschaftliche Abhandlungen, die einen Zusammenhang zwischen Umweltverschmutzung und Leuzismus herstellen. In unserer Wahrnehmung verleihen Farbgebung und Mustervariation Tieren Identität und definieren gleichermaßen ihre Schönheit.

Durch Erschaffung eines „Königreichs ohne Farben“ untersucht die Künstlerin ein Phänomen, das durch Mutation in einen unheimlichen Minimalismus zu münden scheint.

Die Ausstellung wurde gefördert durch:
Stadt Leipzig / Kulturstiftung des Freistaates Sachsen / Stiftung Federkiel / Hypo-Kulturstiftung / Japan-Foundation / Land Schleswig-Holstein / Landeshaupstadt Kiel / ifa-Institut für Auslandsbeziehungen

www.halle14.org